Bei Gottfried Böhms Wallfahrtskirche in Neviges liegt das typologisch Funktionale und Zeichenhafte, in städtebaulicher Hinsicht, in der architektonischen Einfassung des letzten Abschnitts des Pilgerweges, eines so genannten „heiligen Bezirks“ mit einer „heiligen Straße“ (Via Sacra). Solche durch Mauern, Bäume und Kleinbauten vom Profanbereich abgegrenzten Zonen mit ansteigenden Treppen sind in der traditionellen Wallfahrtsarchitektur weit verbreitet. Sie wurden von Pilgern vielfach barfuß, auf den Knien rutschend, gelegentlich einen Strick um den Hals tragend und die heilige Maria anrufend zurückgelegt. (56) Die Zahl dieser Treppenstufen hat in der Regel eine symbolische Bedeutung, wie die entsprechende, in Neviges anzutreffende Zahl drei, die auf die drei göttlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung bezogen ist. Die Zahl 15 wird in Neviges durch die fünffache Folge der dreistufigen Treppe gebildet und darf als Symbol für das Alter der heiligen Maria zum Zeitpunkt der Verkündigung gelten. (57) (Abb. 20)
Die Via Sacra von Neviges wurde vor dem Hintergrund eines gewandelten Architekturleitbilds entworfen, was unter anderem dazu führte, dass das als städtebauliches Ideal aufgefasste isolierte Monument an Bedeutung verlor. Stattdessen widmete man sich der Betrachtung des sich durch einen Raum bewegenden Menschen und verstand diesen zuweilen sogar als den eigentlichen Erschaffer von Architektur. Der entsprechende Paradigmenwechsel ist in der vielfach dezidierten Wegeführung in der Architektur der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts bereits vorweggenommen und zeigte sich beispielsweise im internen Straßensystem der Freien Universität Berlin von Candilis, Josic, Woods, Schiedhelm (1963, 1967-73) oder in den ausgedehnten Studien von Giancarlo de Carlo zum Fußgängerverkehr in Urbino (1958). Möglicherweise spielte für Gottfried Böhm das Vorbild Clemens Holzmeisters eine besondere Rolle, der bei seinem Entwurf für die Wallfahrtskirche in Neviges von 1931 ebenfalls einen, wenn auch kurzen, bergauf verlaufenden und von Pilgerhäusern gerahmten Weg vor der Kirche angeordnet hatte. Da Clemens Holzmeister und Dominikus Böhm freundschaftliche Beziehungen pflegten, könnte dessen Sohn von den Plänen Holzmeisters gewusst haben. (58) Gottfried Böhm hatte jedenfalls durch die positive Identifikation mit seinem Vater einen ganz unmittelbaren Zugang zur jüngeren Baugeschichte. Aus dem vertrauten Werk des Vaters könnten das Projekt der Pfarrkirche in Brühl (1951) mit dem von Kleinbauten begleiteten Zugangsweg und die Christkönigskirche in Bischofsheim (1926) mit den von hinten beleuchteten Emporen den Bau in Neviges beeinflusst haben, ebenso wie die verschiedenen, mit einem Kapellenkranz versehenen Zentralraumprojekte Dominikus Böhms. (59) (Abb. 11 u. 16)
Der beschriebene längsgerichtete Wegraum (Via Sacra) wird in der traditionellen Wallfahrtsarchitektur wie auch bei Gottfried Böhms Wallfahrtskirche in Neviges aus funktionalen und symbolischen Gründen vorzugsweise mit einer zentralisierenden Kirche verbunden. (60) Der ansteigende Weg mündet dabei in einer Platzanlage und steigert damit den baulichen Eindruck der dahinter stehenden Kirche. Deren zentralisierender Raum begünstigt Anlage und Funktion einer äußeren Zirkulationszone, wie sie Gottfried Böhm in der Überarbeitung seines Entwurfes für Neviges eingeführt und später, in der Ausführung, in ihrer strikten traditionellen Form wieder etwas relativiert hat. Diese Zirkulationszone dient, nachdem sich der Pilger der Läuterung entlang des Bußweges unterzogen hat, seiner spirituellen Stärkung durch die Liturgie, bevor ihm nach der Beichte die Sünden vergeben werden und er die Gnade des Kultobjektes empfangen darf. (61) In Neviges sind diese Stationen in den beschriebenen funktionalen Ablauf so eingebunden, dass die Liturgie nicht gestört wird. Die Emporen haben die Funktion, zusätzliche Pilger aufzunehmen, dienen aber auch der innenräumlichen Differenzierung und zur indirekten Lichtführung. (62)
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